7 1/2 Lektionen fürs Leben, die ich beim Sumo gelernt habe

7 1/2 Lektionen fürs Leben, die ich beim Sumo gelernt habe

22. März 2019 5 Von Sabine

Ziemlich genau neun Stunden. So lange habe ich mehr oder weniger nackten Männern beim Ringen zugeschaut, denn so lange dauert ein Turniertag beim Sumo. Ein Turnier zieht sich über zwei Wochen, an denen jeden Tag gekämpft wird. Und pro Jahr gib es sechs Turniere, drei in Tokyo und je eines in Osaka, Aichi und Fukuoka. Neun Stunden sind eine Menge Zeit, um über das zu philosophieren, was sich da unten im Ring abspielt. Vor allem während der ersten Tageshälfte, wenn das Stadion nach fast leer ist, während im Ring der Nachwuchs kämpft. Und so kam es, dass ich nicht umhin kam, festzustellen, dass im Sumo viele wertvolle Lektionen fürs Leben versteckt sind.

Nachdem ich im Oktober in Tokyo beim Sumo-Training zugeschaut hatte, habe ich nicht nur einen Turnier-Besuch auf die to-do-Liste gesetzt, sondern auch gleich in meinem Kalender vermerkt, wann der Vorverkauf für das März-Turnier in Osaka startet. Genau eine Stunde nach Beginn des Vorverkaufs stand ich im Ticket-Shop – und hatte Probleme, noch eine Karte zu bekommen. Das Finalwochenende war schon komplett ausverkauft. Und auch sonst gab es nur noch Karten in den beiden günstigsten Kategorien, die besten Plätze waren alle schon weg. Da die besten Plätze in Japan aber Kissen sind, auf denen man neun Stunden kniet, hätte ich ohnehin dankend auf einen der besten Plätze verzichtet. Und so bin ich auf der bestuhlten Tribüne in der zweitgünstigsten Kategorie gelandet. Bei der eine Karte umgerechnet immer noch 55 Euro kostet. Halten wir fest: die Japaner lieben ihr Sumo, und das nicht zu knapp!

Wo sind die denn alle?!

Mit der Karte bekam ich ein Infoblatt, das mir erklärte, dass es um 9 Uhr in der Früh los geht (Einlass ab 8:15 Uhr) und der Tag um 18:00 Uhr endet. Typisch deutsch bin ich kurz nach halb neun im Stadion. Und ziemlich einsam. Kaum jemand da. Touristen kreisen über die Tribüne, Mütter mit Kindern kommen und gehen. Nur ein paar ältere Herren sitzen schon da und gehen voll mit, bei dem, was da unten im Ring abgeht. Das Stadion ist eine schmucklose Mehrzweck-Sporthalle. Auf der Tribüne orangene Klappsitze, auf denen jeweils ein Kissen festgebunden wurde, damit sich die neun Stunden besser aussitzen lassen. In der Mitte des Spielfeldes ist der Ring aufgebaut, der aus einer aus gestampftem Lehm und Sand aufgeschütteten Plattform besteht, auf der der Ring aus Reisstroh liegt. Drumherum ist auf einem Gerüst eine zweite Tribüne errichtet. Hier sitzt man auf besagten Kissen und bekommt vom Personal dazu ein Kanne Tee gebracht.

Sumoring vor Beginn des Wettkampfs

Weil es so leer ist, gehe ich mal nach unten und lasse mich auf einem dieser Kissen nieder. Ich bin quasi auf Augenhöhe mit den Füßen der Ringer (sumotori). Man kann sie stöhnen hören, wenn sie sich gegenseitig aus dem Ring zu schieben versuchen. Im Ring steht ein Schiedsrichter, dessen Gewand an das eines Priesters erinnert. Einer von vielen Hinweisen auf den religiösen Ursprung dieses Sports. Um den Ring herum sitzen vier weitere Schiedsrichter, die mehr als einmal an diesem Tag im Ring zu einer Beratung zusammenkommen müssen darüber, wer den nun gewonnen hat. Denn nicht selten gehen beide Kontrahenten gemeinsam in einem Knäuel aus Armen und Beinen zu Boden, und dann kommt es darauf an, wer den Sand zuerst berührt hat. Ihre Entscheidung erklären die Herren dann per Mikrofon.

Am Vormittag kämpft der Nachwuchs, ziemlich schmucklos und in schneller Abfolge. Jeder sumotori muss an allen 14 Tagen ran, der Gegner wechselt dabei immer. An zwei Seiten des Rings sind neben dem Schiedsrichter Plätze, auf denen die Kämpfer sitzen, die in den nächsten beiden Runden dran sind. Sie verbeugen sich zunächst zum Ring hin, dann vor dem Schiedsrichter, bevor sie sich setzten. Wer den Ring verlässt, dreht sich ebenfalls noch einmal um und verbeugt sich. Ganz so, wie man es bei einem Tempelbesuch machen würde. Kurz nach zwei Uhr marschieren die sumotori des mittleren Rangs ein. Bevor sie kämpfen, drehen sie eine Runde im Ring und werden vorgestellt. Dabei tragen sie außer dem Gürtel (mawashi) noch eine prächtig bestickte Schürze. Die Halle ist nun deutlich voller. Die Leute rufen schonmal laut den Namen ihres Favoriten. Gegen halb vier Uhr dann dasselbe Zeremoniell, aber diesmal mit den Profis. Die Halle ist jetzt so gut wie voll, die Stimmung gut. Am Ende zieht unter Jubel der Großmeister ein. Das hier ist Sumo, wie ich es mir vorgestellt habe! Aber egal, ob Nachwuchs oder Großmeister, von allen lassen sich die folgenden Lektionen lernen:

Lektion 1: Wer aus dem Ring fällt, steigt sofort wieder rein

Das Grundprinzip beim Sumo ist einfach: man muss den Gegner entweder aus dem Ring bugsieren oder ihn dazu bringen, dass er den Boden innerhalb des Ringes mit mehr als nur den Fußsohlen berührt. Es gilt aber auch: wer aus dem Ring fällt – und nicht wenige sind nicht nur aus dem Ring sondern gleich von der Plattform gepurzelt – der steigt direkt wieder rein. Denn er muss sich noch einmal formell vor seinem Gegner verbeugen. Erst dann darf er die Arena verlassen. Kennen andere Kulturen in einer berittenen Variante.

Lektion 2: Wer selber nicht im Ring steht, lebt trotzdem gefährlich

Wer glaubt, wenn man nur Zuschauer ist und sich selber nicht in Gefahr begibt, kann einem nichts passieren, wird beim Sumo eines Besseren belehrt. Wenn so ein Koloss mit Schwung aus dem Ring katapultiert wird, landet er nicht selten in den Kissen der ersten Zuschauerreihen. Ich will jetzt gar nicht sagen, dass wir alle gleich in den Sumoring steigen sollen. Aber nur, weil wir nicht drin stehen, ist das Leben trotzdem nicht ungefährlich.

Sumotori geht zu Boden

Lektion 3: Der Dickste ist nicht automatisch der Gewinner

Ich habe keine Strichliste geführt, aber völlig unstatistisch unbewiesen behaupte ich jetzt mal: wenn sich ein ziemlich gewichtiger sumotori und ein eher schmächtiger (*hust*) Kontrahent gegenüber standen, hat überproportional oft der Schmächtige gewonnen. Natürlich kann ein Dicker einen Dünnen besser aus dem Ring schieben als umgekehrt. Aber es kommt beim Sumo eben nicht nur aufs Gewicht, sonder auch auf die Technik an und darauf, dass man agil bleibt. Und wenn so ein Koloss erstmal in Bewegung kommt, kann er am Reisstrohring nur noch schwer stoppen und stolpert sich manchmal selber ins Aus.

Lektion 4: Ein Schritt zurück kann manchmal der entscheidende Schritt zum Sieg sein

Der kürzeste Kampf des Tages dauerte 3 Sekunden. Statt auf seinen Gegner loszustürzen machte einer der sumotori beim Startsignal des Schiedsrichters einen Sprung nach hinten. Sein Kontrahent stürzte sich gleichzeitig mit Schwung nach vorne – und fiel flach auf den Bauch. Kampf zu Ende.

Lektion 5: Wer mit der Ferse am Reisstrohring steht, hat noch lange nicht verloren

Im Laufe des Tages hat sich eine Situation regelmäßig wiederholt: einer der Kontrahenten schiebt den Gegner scheinbar mühelos über den Sandboden. Bis dieser schon mit den Fersen auf dem Reisstrohring steht. Es scheint nur noch eine Formsache, in ganz aus dem Ring zu schieben. Oder eben nicht. Denn während es viel Kraft verlangt, die Füße in den Sandboden zu stemmen und so dem Gegner etwas entgegenzusetzen, hat man auf dem leicht erhöhten Strohring viel besseren Halt. Und ein nicht unerheblicher Teil der sumotori hat hier den Kampf noch einmal gedreht und dank des festen Halts unter den Füßen mal eben den Gegner mit Schwung ins Aus befördert. Übertragen auf Menschen, die nicht im Lendenschurz unterwegs sind: wer mit dem Rücken zur Wand steht, kann sich daran prima abstoßen und mit ordentlich Schwung weitermachen.

Sumotori im Kampf

Lektion 6: Wer sich vor dem Kampf am meisten aufpumpt, verliert danach nicht selten

Während die Nachwuchskämpfer am Morgen in kurzer Folge antreten, läuft das am Nachmittag ein bisschen anders. Die Kämpfer treten in den Ring, und dann plustern sie sich erstmal auf, versuchen sich nieder zu starren und werfen zwischendurch Salz in den Ring. Das hat im Shintoismus eine symbolische reinigende Funktion. Manche reiben sich auch gleich den halben Körper mit Salz ab. Nicht selten gehe die Kämpfer schon in die Hocke und damit in die Startposition. Und dann springt wieder einer auf, trinkt nochmal einen Schluck Wasser, lässt die Muskeln spielen und produziert sich am Rand des Rings. Unnötig zu erwähnen, dass die, die sich vor dem Kampf am meisten produzieren, am Ende nicht unbedingt die Gewinner sind. Und bin ich hier die Einzige, die beim Stichwort aufplustern an nicht enden wollende Bürobesprechungen denken muss?

Lektion 7: Minimalismus zahlt sich aus

Die Tatsache, dass die Turniere zwischen Stadien wandern können, verdankt der Sport seiner Konzentration auf das Wesentliche. Der Ring aus Lehm und Sand muss ohnehin für jedes Turnier neu gemacht werden, und das geht überall. Das an einen Tempel erinnernde Dach über dem Ring ist wahrscheinlich tonnenschwer und damit ein limitierender Faktor bei der Auswahl der Austragungsorte, aber lässt immer noch genug Optionen. Konzessionen an die Moderne wurden genial mit den Traditionen des Sports verwoben. Werbebanner? Werden vor den einzelnen Kämpfen einmal durch den Ring getragen. Sponsoren unterstützen dabei nicht einen einzelnen sumotori, sondern eine ausgewählte Runde des Kampfes. Und je mehr Banner, umso mehr tobt das Publikum. Denn die werbende Unterstützung wird hier als Wertschätzung für die Leistung der Athleten gesehen. Lautsprecherdurchsagen? Gibt es, aber vor jedem Kampf werden erst ganz traditionell die Namen der antretenden sumotori gesungen (ja, gesungen!), danach nochmal über den Lautsprecher verkündet. Und wenn am Abend der letzte Kampf vorbei ist, dauert es keine 10 Minuten, dann ist der Ring abgedeckt und alle gehen nach Hause.

Lektion 7 1/2: Je eine halbe für Jungs und eine halbe für Mädels

Jungs! Wenn Ihr zufällig beabsichtigen solltet, in einem traditionellen Vorläufer des Stringtangas unter gleißendem Scheinwerferlicht Eure Kehrseite in die Menge zu recken, werft vorher einen prüfenden Blick in den Spiegel. So mancher Hintern, den ich im Laufe dieser neun Stunden gesehen habe, hätte dringend ein Waxing gebraucht. Oder wenigstens eine Runde mit dem Epilierer. Mädels! Wenn die Kosmetikindustrie Euch einreden will, Orangenhaut sei ein typisch weibliches Problem, dann Glaubt! Ihr! Kein! Wort!