Wie deutsche Soldaten Beethoven nach Japan brachten

Wie deutsche Soldaten Beethoven nach Japan brachten

8. November 2018 0 Von Sabine

Den Ersten Weltkrieg verbindet man spontan mit Orten wie Ypern oder Verdun, weniger mit Japan. Tatsächlich waren aber rund 4.700 deutsche Soldaten Kriegsgefangene des japanischen Kaisers. Knapp 1.000 von ihnen waren in Bando untergebracht, heute ein Teil des Städtchens Naruto in der Nähe von Tokushima. Und dort haben sie den Grundstein für die innige Liebe der Japaner zu Beethoven gelegt.

Seit fast einer Stunde marschiere ich entlang der Schnellstraße. Ich bin auf dem Weg zum ersten der insgesamt 88 Tempel der Shikoku-Pilgerroute. Leider kommen beim Marsch auf dem Standstreifen keine rechten Pilgergefühle auf. Mein Hirn hat auf Leerlauf geschaltet und es dauert einen Moment, bis es durchdringt. Das Schild da ist nicht nur auf Japanisch und Englisch beschriftet, wie sonst üblich. Hier wird Deutsch gesprochen! Deutsches Haus Naruto steht dort. Und Deutsches Dorf Park. Ich hatte schon im Reiseführer vom Deutschen Haus gelesen, aber nicht vom Park. Also erst in den Tempel, den ich von hier aus schon sehen kann. Dann zurück, dieses Stück deutsche Geschichte erkunden.

Dass es sich beim Deutschen Dorf nicht um eine Sammlung Souvenirläden in Fachwerkhäuschen mit Kuckucksuhren und Schwarzwälder Kirschtorte handelt (hätte ich in diesem Land nicht weiter verwunderlich gefunden), wird deutlich, als ich den nächsten Wegweiser sehe. Ehrenmal für die deutschen Soldaten steht da. Das Dorf ist tatsächlich das Kriegsgefangenenlager bzw. das, was noch davon übrig ist. Die hier internierten Soldaten kamen aus China. Dort hatte das Deutsche Kaiserreich in Tsingtau einen Marinestützpunkt, den die Japaner erfolgreich angriffen. Am 7. November 1914 mussten sich die Deutschen geschlagen geben und wurden nach Japan gebracht. Hier verteilte man sie auf zwölf verschiedene Lager. 1917 wurden die Gefangenen aus drei dieser Lager nach Bando verlegt und blieben fast drei Jahre bis zum Kriegsende dort.

Aus Deutschen werden stolze Bandoer

Ich betrete den Park und bin die einzige Besucherin. An einigen Stellen stehen Müllsäcke mit trockenem Laub, der Park wird also gepflegt, auch wenn ich ihn nicht so gut unterhalten finde, wie ich es sonst in Japan gewohnt bin. Es steht nicht mehr viel von den Gebäuden von damals, wie so oft wurden sie nach Kriegsende verkauft, abgebaut und anderweitig genutzt. Eine der Baracken ist am Originalplatz wieder rekonstruiert. Das Fundament der Bäckerei steht noch. Eine Brücke wurde auf Basis alter Fotos originalgetreu wieder errichtet. Bäume haben sich über die Jahre mit ihren Wurzeln unter den gepflasterten Wegen hindurch gearbeitet, und ich muss aufpassen, dass ich nicht stolpere. Obwohl es schon Anfang November ist, blühen hier noch Blumen. Das Lager war ein Ort der Menschlichkeit, der japanische Lagerkommandant hat die Deutschen mit Respekt behandelt und ihnen verhältnismäßig viele Freiheiten gelassen. Die aufgestellten Gedenksteine sprechen von Freundschaft, und diese Stimmung ist im Park zu spüren. Eine Informationstafel gibt auf Japanisch, Englisch und Deutsch Auskunft.

Vorbei an einem Wachturm geht es ein Stück den Hang hinauf. Hier stehen weitere Gedenksteine. Einige Deutsche sind währen der Zeit im Lager verstorben, ihnen ist hier von ehemaligen Kameraden ein Mahnmal errichtet. Das Rote Kreuz Japan hat einen weiteren Gedenkstein für den Lagerkommandanten Toyohisa Matsue aufgestellt und lobt dort dessen humanen Führungsstil, der dazu führte, dass sich freundschaftliche Beziehungen zwischen den Deutschen und den Bewohnern Bandos entwickeln konnten. Die Gefangenen nannten sich nicht ohne Stolz „Bandoer“, lese ich später im Museumsflyer. Ich finde zudem eine Gedenkplakette des Studienwerkes für Deutsch-Japanischen Kulturaustausch in Nordrhein-Westfalen mit Sitz in Düsseldorf. Es hat 30 Lindenbäume für den Park gestiftet.

Ein kleines Lüneburger Rathaus in der japanischen Provinz

Ich verlasse das Lager und gehe weiter zum Deutschen Haus. Es wurde 1993 als Museum für die Geschichte Bandos eröffnet. Da Naruto und Lüneburg seit 1974 eine Städtepartnerschaft unterhalten, stand das Lüneburger Rathaus beim Bau Pate (großes Foto). Im Innern ist Fotografieren leider verboten. Die Ausstellung startet mit einem Modell des Deutschen Dorfes, denn das Lager wurde schnell zu einer kleinen Welt für sich. Handwerker errichteten Läden, es gab einen Metzger, Restaurants, eine Bibliothek, eine Konditorei und eine Druckerei, in der neben Postkarten für Grüße an die Liebsten in Deutschland auch eine Wochenzeitung mit dem Namen „Die Baracke“ produziert wurde. Spezielles und nur im Lager gültiges Geld machte den Handel möglich. Im Lager gab es zudem Sportplätze, Gemüsegärten und eine Kegelbahn. Die Deutschen haben daneben einen engen Austausch mit den Einheimischen gepflegt und zum Beispiel an der lokalen Landwirtschaftsschule unterrichtet. Umgekehrt haben sich deutsche Soldaten in der Herstellung von Keramik nach japanischer Technik versucht.

Modelle der Baracken zeigen, wie die Deutschen gelebt haben. In den Schaukästen finden sich Alltagsgegenstände ebenso wie im Lager hergestellte Kunstobjekte. Auch zwei Zeugnisse sind da zu sehen, die Japaner für ein mehrmonatiges Praktikum in der deutschen Konditorei erhalten haben – dort zu arbeiten galt damals als eine Auszeichnung. Zur Eröffnung des Museums haben Japaner aus der Umgegend Möbel gespendet, die im Lager gefertigt worden sind und in den Familien nach wie vor in Gebrauch waren. Was ich sehr nett finde: vor den meisten Vitrinen hängt eine kleine Mappe mit Zetteln, in denen sich auf Japanisch und Deutsch Informationen befinden, und die man mitnehmen kann.

Die asiatische Uraufführung von Beethovens Neunter

Kunst und Kultur wurden im Lager hoch gehalten. Es gab regelmäßige Theateraufführungen und Vortragsreihen. 1918 fand im Ryozen-in Tempel (der, zu dem ich unterwegs war) eine Kunstausstellung statt, in der die Gefangenen ihre Werke ausstellten. 50.000 Japaner kamen nach Bando, um das zu sehen. Daneben gab es zwei Orchester sowie mehrere Chöre und Kappellen, die regelmäßig Konzerte organisierten.

Eines dieser Konzerte war die asiatische Uraufführung von Beethovens Neunter Sinfonie, von der wohl jeder den vierten Satz kennt, nämlich die Ode an die Freude, die inzwischen unter anderem die offizielle Hymne Europas ist. Dieses Stück aufzuführen stellte die Deutsche jedoch vor eine Herausforderung. Beethoven hat beim Komponieren leider nicht daran gedacht, dass das Stück mal von einem Gefangenenchor gesungen werden könnte – und der bestand nur aus Männern. Die Frauenstimmen mussten in Bando also umgeschrieben werden, damit es passt.

Am 1. Juni 1918 wurde Beethovens Neunte zum ersten Mal komplett in Japan und damit in Asien aufgeführt. Ein 45-köpfiges Orchester und ein 80 Mann starker Chor mit vier Solisten brachten dieses Stück deutsche Musik ins japanische Kaiserreich. Nicht ahnend, was für einen Hit sie damit landen sollten. Denn Beethovens Neunte ist bis heute eines der beliebtesten Stücke klassischer Musik in Nippon. Nicht nur in Naruto wird das Stück alljährlich am ersten Juni-Sonntag aufgeführt. Vor allem zum Jahresende wird die Neunte an vielen Orten in Japan gespielt. Die größte Aufführung gibt es alljährlich Anfang Dezember in Osaka mit bis zu 10.000 Teilnehmern. Auf der Bühne, nicht als Zuschauer. Aus dem ganzen Land reisen Chöre an, um dabei zu sein. Und sie singen auf Deutsch! Ich hätte das gerne live gehört, aber die verkaufen keine Tickets. Die Sitzplätze in der Halle werden alle für die Sänger gebraucht ….

Was man halt so für typisch deutsch hält

Auch das Museum hat der Neunten viel Raum gegeben. Alle halbe Stunde gibt es eine Aufführung mit Musik und animierten Puppen. Die Erklärungen kommen von einem mechanisch bewegten Kameraden, der sich in akzentfreiem Japanisch als Hermann Hansen vorstellt, so hieß der damalige Dirigent des Gefangenenorchsters. Die Erklärung ist ausschließlich auf Japanisch, aber es geht ja um die Musik. Leider klappert die Mechanik, die den Geigern den Bogen führt, fast lauter als die Musik vom Band.

In diesem kleinen Theater passiert mir aber etwas, dass ich aus Kyoto eher selten kenne: ich werde von Japanern angesprochen. Man muss dazu wissen, dass der Japaner eher ungern mit Ausländern spricht, weil er befürchtet, dann sein in der Regel rudimentäres Englisch auspacken zu müssen. Selbst meine Nachbarn grüßen oft nicht zurück, auch wenn ich in meinem besten Japanisch Guten Abend sage. Lediglich die alte Damen nebenan hat ein Pläuschchen mit mir angeknüpft, aber deren Sohn arbeitet auch in Düsseldorf. Hier in Bando setzt sich eine Gruppe älterer Herrschaften ungeniert rechts und links von mir hin und fragt mich aus, bis die Vorstellung beginnt.

Ich beende meinen Besuch im Museumsshop, der eine wilde Ansammlung von Produkten ist, die man hier für typisch deutsch hält. Deutsches Bier in verschiedenen Sorten, natürlich. Schogetten, Ritter Sport und Haribo, Kühne Essig und Böcklunder Würstchen. Ampelmännchen und die Sendung mit der Maus. Ich muss mich beeilen, denn das Museum schließt um 16:30 Uhr seine Pforten – und um 16:34 Uhr fährt der letzte Bus des Tages zum Bahnhof. Also schnell noch ein Foto der – wie ich finde eher weniger gelungenen – Beethoven-Statue im Garten, dann geht es zurück nach Tokushima, meiner Ausgangsbasis für dieses Wochenende.

Auf dem Rückweg wird mir klar, was an diesem Ort so anders ist. Ich kenne Gefangenenlager bisher nur im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Wer mal ein Konzentrationslager besucht hat, weiß, wie sehr man dort noch immer den Schrecken spüren kann, wie lange der Besuch noch an einem nagt. In Bando dagegen war die Stimmung ganz anders. Die Stadt Naruto, zu der Bando nun gehört, verkauft sich selber stolz als Heimat der Neunte (das N habe nicht ich vergessen, so steht es auf Deutsch auf den Werbebannern). Im Deutschen Dorf steht ein Marmorstein, in den auf Deutsch und Japanisch nur ein Wort gemeißelt ist: Freundschaft. Der Ton im Museum ist geprägt davon, das gute Miteinander in den Vordergrund zu stellen. Das erklärt auch, warum nach der Schließung des Lagers am 8. Februar 1920 fast 70 Deutsche in Japan blieben, das für sie inzwischen eine neue Heimat war. Aus dieser Ausstellung geht man mit einem guten Gefühl – und das kenne ich als Deutsche nicht, wenn es um Ausstellungen geht, die mit dem Krieg zu tun haben. Auch deswegen ist Bando einen Besuch wert.

Weiterführende Links

Das Museum selber hat keine Homepage, aber das Kulturamt der Stadt Naruto hat ausführlich Informationen auf seiner Website, und das sogar auf Deutsch! Hier finden sich unter anderem auch ein paar Fotos aus dem Alltag im Lager. Wer auf der bekannten Videoplattform DuRöhre die Stichworte „Beethoven“ und „Osaka“ eingibt, bekommt verschiedene Videos zur alljährlichen Monumentalaufführung. Selbstredend ist die Geschichte von Bando inzwischen auch verfilmt worden, und zwar als deutsch-japanische Co-Produktion, die in Japan ein riesiger Erfolg war, es in Deutschland aber nur in die Programmkinos geschafft hat. Hier geht’s zum Trailer (und es gilt die alte Regel: es ist nur wirklich deutsch, wenn Neuschwanstein drin auftaucht).