Naoshima – kleine Insel, große Kunst
Schon auf der Fähre zur Insel steht eine kleine Skulptur. Beim Einlaufen in den Hafen Miyanoura sehe ich noch vom Schiff aus einen knallroten, überlebensgroßen Kürbis der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama. Ein Stück neben dem Fährterminal steht eine strahlend weiße, begehbare Skulptur. Und noch bin ich nicht einmal vom Schiff runter. Na dann: Willkommen auf der Kunstinsel Naoshima!
Naoshima liegt in der Seto-Inlandsee. So heißt das Binnenmeer zwischen den drei Hauptinseln Honshū (da wohne ich), Shikoku (die kleine Insel gegenüber) und Kyūshū (da wo Japan so gut wie zu Ende ist). Die Inselbewohner fanden einst ein kärgliches Auskommen in der Fischerei. Dann entschied sich in den 90er Jahren ein japanisches Unternehmen, seine umfangreiche Kunstsammlung hier auszustellen. Weitere Künstler und Projekte folgten, und inzwischen scheinen nicht wenige Bewohner auch den Drang zu verspüren, ihre Häuser künstlerisch aufzuwerten. Wahre Kunstliebhaber können auf Naoshima und der Nachbarinsel Teshima, die inzwischen auch zur Kunstinsel wurde, Tage verbringen. Aber auch wer so wie ich nur für ein Wochenende vorbei kommt, kann die wunderbare Kombination aus Natur, Kunst und Inselleben genießen.
Von Kürbis zu Kürbis
Ich schultere meinen Rucksack und steuere als erstes den Fahrradverleih an. Mein Guesthouse liegt nämlich auf der anderen Seite der Insel. Es gibt zwar Minibusse im Kürbis-Design, die über die Insel fahren, aber da stehen schon jede Menge Rollkoffer Schlange. Fahrräder mit Gangschaltung sind alle weg. Ich habe die Wahl zwischen einem teueren Elektrorad und einem Hollandrad ohne Gangschaltung. Der Mann im Fahrradverleih behauptet, außer dem Wegstück, das in der Inselbroschüre auch schon ausdrücklich als steil ausgewiesen ist (und das ich sowieso nicht fahren muss), sei alles kantan, also einfach. Einfach ist relativ, stelle ich später fest. Aber jetzt lege ich erstmal ein bisschen Kleingeld für das Hollandrad auf den Tisch und bekomme dann eine bebilderte Wegbeschreibung, die mich zu einer sperrangelweit offen stehenden Garage führt, aus der ich mir ein Rad aussuchen kann. Niemand schreibt auf, welches Rad ich genommen habe. Niemand kontrolliert am Ende, ob ich es auch zurück bringe.
Das Rad ist rostig und könnte etwas mehr Luft im Vorderreifen gebrauchen. Aber es bringt mich dahin, wo ich will. Schnell eingecheckt, es ist schon Nachmittag, und ich will doch noch Kunst sehen. Freundlicherweise hat das Benesse House Museum bis 21 Uhr geöffnet. Der Skulpturen-Park rund um das Museum, das zugleich auch ein Hotel ist (leider nicht meine Preisklasse), kann sogar rund um die Uhr gratis besucht werden. Kurz hinterm Fahrradparkplatz steht er, der gelbe Kürbis von Yayoi Kusama. Die Frau ist international bekannt, aber vor allem in Japan ein Star, und der gelbe Kürbis ist eines ihrer Markenzeichen. Ich habe schon eine Ausstellung von ihr in Kyoto gesehen, da gab es unter anderem Kürbisbilder in allen Farben. Und in ihrem Geburtsort Matsumoto in den japanischen Alpen hat sie für das Kunstmuseum eine Skulptur aus riesigen Blumen entworfen, ebenfalls im Punktdesign. Als Kind litt Yayoi Kusama unter Halluzinationen, die Kunst ist quasi ihre Therapie. Wobei ihre Frühwerke, von denen ich einige in Matsumoto gesehen habe, eher düster sind. Heute dagegen ist sie ziemlich bunt unterwegs, neben dem Kürbis auch mit vielen Blumenmustern.
Ich spaziere langsam durch den Skulturenpark, der sich den Berg hinauf schlängelt und zugleich wunderbare Blicke auf die Seto-Inlandsee eröffnet. Drei riesige quadratische Stahlplatten bewegen sich synchron auf einem Hügel. Unten am Strand gibt es eine Skulptur, die aussieht, als wären hier Teile eines Raumschiffes angespült worden. Das Museum muss hier irgendwo sein, aber erst kurz bevor man da ist, sieht man es. Es verschwindet hinter der Vegetation.
Kunst mit Meerblick
Das Benesse House ist ein modernes Betongebäude, und auch die Kunst ist modern. Lichtinstallationen, Fotos, Skulpturen. An einer Wand hängen Glaskästen mit Flaggen aus aller Welt aus Sand, durch die Ameisen Gänge gegraben haben. In einer Ecke ein großes Ölgemälde mit einer Bucht, in der ein gelbes und ein schwarzes Boot auf dem Sand liegen. Davor ein gelbes und ein schwarzes Boot. Und wenn man gegenüber durch die geöffnete Balkontür tritt, blickt man weit unten auf eine kleine Bucht – in der ein gelbes und ein schwarzes Boot auf dem Sand liegen. Die Sonne geht langsam unter, und ich bleibe erstmal ein bisschen hier sitzen und genieße den Ausblick. Mutter Natur ist nämlich auch eine verdammt gute Künstlerin. Die Museumssäle sind riesig, aber nur spärlich bestückt, was mir entgegen kommt. Zu viel Kunst auf einmal kann doch keiner genießen, das macht nur müde. Bevor es dunkel wird, muss ich zurück zum Guesthouse. Mein Fahrrad hatte zwar mal Licht, aber das ist schon länger her.
Am nächsten Morgen strahle die Sonne, ich lasse meinen Rucksack an der Rezeption zurück und radel Richtung Honmura. Dort möchte ich mir heute das Art House Project anschauen. Sechs Künstler haben hier ebenso viele verlassene Gebäude umgestaltet. Los geht es am Go’o Schrein. Hier wurde der alte Schrein um eine gläserne Treppe ergänzt, die sich unter der Erde fortsetzt. Bewaffnet mit einer Taschenlampe kann man durch einen recht engen Gang gehen und sich das Kunstwerk von unten ansehen. Ein Pfütze am Fuße der Treppe erweckt den Eindruck, dass die Treppe aus Eis ist und gerade schmilzt.
Mein nächster Stopp ist ein 200 Jahre altes Haus. Im Innern sind in einem Raum die Tatami-Matten entfernt worden, stattdessen ist dort nun eine Wasserfläche. Im Wasser liegen 125 LED-Leuchten, die von eins bis neun zählen. Und zwar jede in einem anderen Tempo. Einwohner Naoshimas durften die Schnelligkeit der einzelnen Leuchten festlegen. Ich bleibe ein bisschen im Halbdunkel sitzen und stelle fest, dass sich der Blick auf das Kunstwerk verändert, wenn sich die Augen erstmal an die Dunkelheit gewöhnt haben – nicht ahnend, dass dieses Konzept gleich noch von einem anderen Künstler auf die Spitze getrieben wird.
Dunkelheit als Kunst
Nicht überzeugen kann mich Halt Nummer 3. Zwei im traditionellen Stil neu gebaute Pavillons, einer gefüllt mit hölzernen Kamelien-Blüten, der andere leer. Da gehe ich lieber zum Zahnarzt. Wörtlich. Denn auch das ehemalige Haus eines Zahnarztes wurde künstlerisch umgestaltet. An die frühere Nutzung erinnern mit Zähnen bemalte Kacheln in der Mauer rund um das Haus. Während außen Rost und Recycling vorherrschen, geht es drinnen teils moderner zu. So findet man eine über zwei Etagen gehende Freiheitsstatue in weiß neben einem Raum, der mit schwarzem Plastik in eine düstere Landschaft verwandelt wurde.
Apropos düster, jetzt geht das Licht aus. Alle 15 Minuten darf ein Grüppchen Besucher in das von einem Künstler und einem Architekten gemeinsam entworfene Haus, das mit der Wahrnehmung der Besucher spielt, und auf einem Gelände steht, das früher einen Tempel beherbergte. Es ist pechschwarz, als ich den Raum betrete. Die Besucher müssen sich an der Wand entlang tasten, es ist fast schon beängstigend. Und dann sitzt man auf einer Bank und starrt ins Nichts. Oder doch nicht, denn langsam kristallisieren sich hellere Flecken heraus. Nach einigen Minuten dürfen wir aufstehen und im Raum umhergehen. Erstaunlicherweise erkenne ich nun die Bank, auf der ich saß, die Wände des Raumes und die Säule, hinter der sich der Eingang verbirgt. Meine Augen brauchten nur Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Beim Rausgehen frage ich die Betreuerin, die uns in den Raum gebracht hat, wie lange sie hier so üblicherweise in der Dunkelheit steht. Unterschiedlich, sagt sie, aber jetzt ist sie schon seit zwei Stunden dort drin.
Mein letzter Stopp beim Art House Project ist das ehemalige Haus eines Salzhändlers. Hier hat ein Künstler riesige, abstrakte Bilder integriert, einige als Bemalung der traditionellen Schiebetüren aus Papier, andere als wandfüllende Gemälde. Für mich wird es Zeit, zur Fähre zu kommen, aber auf dem Weg dahin radle ich noch kurz in Miyanoura bei einer öffentlichen Badeanstalt vorbei, die ebenfalls von einer Künstlerin umgestaltet wurde. Leider ist es viel zu warm für ein heißes Bad, die Bilder, die draußen hängen, sehen nämlich gut aus. Statt heiß baden entscheide ich mich für kalt essen. Auf der Insel wird Salz aus dem Meerwasser gewonnen, und es gibt am Fähranleger tatsächlich Salz-Eis zu kaufen. Ich sage mal so: kann man mal probieren. Muss man aber kein zweites Mal haben.
Parktische Informationen
Naoshima liegt zwischen Honshū und Shikoku, und von beiden Seiten aus kann man anreisen. Die meisten Besucher nehmen die Route über Okayama weiter zum Fährhafen Uno, von wo aus regelmäßig Schiffe nach Naoshima gehen. Von Uno aus werden sowohl der Hafen Miyanoura als auch der Hafen Honmura bedient, letzterer aber nur mit wenigen Verbindungen pro Tag. Wer von Shikoku aus anreist, kann ab Takamatsu eine Fähre bekommen. Einige wenige Fährverbindungen am Tag bedienen zudem auch die Nachbarinsel Teshima. Und für alle, die so wie ich nicht in den Genuss eines Japan Railpass zum billigen Zugfahren kommen: ich bin von Kyoto aus in etwa dreieinhalb Stunden mit dem deutlich günstigeren Fernbus nach Okayama angereist. Außer den hier genannten Kunstprojekten und Museen gibt es noch weitere Museen zu sehen. Und noch ein wichtiger Hinweis für die Reiseplanung: Montags haben die Museen auf Naoshima zu!