Echte Kerle tragen Rosa
Das Wort des Tages ist oysar. Es wird im Takt der Trommeln gerufen, wenn die Schreine mit ihrer farbenfrohen Dekoration durch die Straßen getragen werden. Ich bin in Mino, einer Kleinstadt in der Präfektur Gifu. Zwei Mal im Jahr wird hier groß gefeiert. Beide Male spielt Papier dabei die Hauptrolle, denn in Mino wird seit über 1.300 Jahren Washi Papier hergestellt. Und zwar das beste Washi Papier ganz Japans. Und so feiert man hier im Oktober ein Lichterfest mit über 500 von Künstlern gestalteten Laterne. Im April dagegen begrüßt man beim Hana Mikoshi den Frühling mit einem Umzug tragbarer Schreine, auf denen riesige Büschel papierener Kirschblüten befestigt sind. oysar!
Die technischen Details zuerst. Washi Papier wird aus Baumrinde hergestellt, und ist dadurch gleichzeitig sowohl sehr weich als auch besonders reißfest. Es kommt in zahlreichen traditionellen japanischen Kunstformen zum Einsatz, bei denen Papier verarbeitet wird. Wer dazu gerne noch ein Gütesiegel hätte: Mino Washi gehört seit 2014 zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO. Und damit können wir zum gemütlichen Teil übergehen, dem Feiern. Und wieso ich dabei bin.
Bevor ich nach Japan aufgebrochen bin, habe ich mich durch kiloweise Bücher und Papier gearbeitet, um keine Highlights zu verpassen. In einem Magazin des japanischen Tourismusverbandes bin ich dabei auch auf einen reich bebilderten Artikel über Mino, Washi Papier und die beiden Festivals gestoßen. Und noch bevor ich japanischen Boden betreten hatte, stand der Termin für das Hana Mikoshi Fest in meinem Kalender. Schon im Herbst habe ich ein Plätzchen in einem Hostel gebucht (die letzte Schlafgelegenheit unter 150 Euro). Und jetzt stehe ich tatsächlich hier! Die Sonne strahlt, als ich um kurz nach acht in der Früh vom unbemannten Minibahnhof Richtung Hostel marschiere. Um neun Uhr soll die Parade am Hachiman Schrein losgehen, also schnell den Rucksack abwerfen und los!
31 shades of pink
Auf dem Weg zum Schrein spaziere ich durch die Altstadt, die zwei Straßenzüge groß ist und in der man problemlos einen Samuraifilm drehen könnte. Ich bin um diese Zeit die einzige Ausländerin in Mino und die Damen an der Touristeninformation sind ehrlich begeistert. Und nicht nur sie, ich werde heute noch öfter angesprochen von Einheimischen, die sich freuen, dass ich mich hierhin aufgemacht habe. Bewaffnet mit einem Stadtplan, einer Übersicht über die Route des Umzugs und einem ausdrücklichen Hinweis, an welcher Ampelkreuzung das große Finale stattfindet, ziehe ich los.
Am Hachiman Schrein geht es gemütlich zu. Die letzten der pink geschmückten tragbaren Schreine setzten sich gerade in Bewegung. Vorweg gehen immer Trommler, dazu wird in Trillerpfeifen geblasen, letzteres wohl nicht ganz so traditionell. Die Träger sind meist Männer, manche Gruppen gemischt, ganz vorne geht sogar eine reine Frauentruppe. Es folgen noch mehr Träger, hier löst man sich regelmäßig ab, das Ding ist schwer. Und alle brüllen sie im Chor: oysar!
Die insgesamt 31 Schreine gehören zu verschiedenen Stadtteilen, und diese sind auch für die jeweilige Dekoration zuständig. Und so sieht man Papierblüten in weiß, zartem Rosa, knalligem Pink und allen Farbtönen dazwischen. Viele Stadtteile schicken zwei Schreine ins Rennen, einen kleinen, der von einer Kindergruppe mit Hilfe einiger Erwachsener getragen wird, und den großen Schrein, unter dem Frauen und Männer ächzen. Der Routenplanung sei dank schlage ich mich durch die Seitenstraßen wieder Richtung Altstadt zurück, das verspricht gute Bilder. Unterwegs hält die Polizei die Schreine tatsächlich an einer roten Ampel an. Hier hat alles seine Ordnung.
Mittendrin statt nur dabei
In der Altstadt ist inzwischen ein kleines bisschen Publikum eingetroffen, aber mancher Kirschblüten-Hotspot in Kyoto hat letzte Woche mehr Leute angezogen. Herrlich! Die Schreine gehen mit ein bisschen Abstand auf die Strecke, so dass man zum Fotografieren immer mal dazwischen springen kann. An der Ecke, an der ich stehe, bleiben die Träger kurz stehen, dann fangen sie an, im Kreis zu laufen und den Schrein immer wieder hoch zu stemmen, so dass die Kirschblütendeko ordentlich in Wallung kommt. oysar! Ich gönne mir im neueren Teil der Stadt noch einen Fotostopp, dann mache ich mich auf zur Kreuzung für das Finale. Hier sehe ich noch eine Hand voll Ausländer. Ein Dutzend vielleicht. Dies ist kein Festival, das auf vielen to-do-Listen auftaucht. Ein älterer Herr in einer knallgelben Jacke, die ihn als „language volunteer“ ausweist, spricht mich auf Englisch an. Möchte wissen, wo ich herkomme, wie ich vom Festival gehört habe. Ich zücke besagten Artikel, wir plaudern ein bisschen. Dann ermahnt er mich, unbedingt auf das Finale des Umzuges zu warten. Hier! Nicht weggehen!
Das Polizeiaufgebot ist noch kleiner als die Zahl der Ausländer. Rotes Klebeband auf dem Boden zeigt an, wie weit man sich auf die Straße stellen darf. Ich platziere mich neben einem Grüppchen älterer japanischer Herren mit professionellen Kameras. Immer eine gute Wahl, wie ich gelernt habe, und auch diese enttäuschen mich nicht. Jeder, der sich vor uns stellt, wird sofort am Ärmel gezupft und nach hinten in die Reihe geschickt. Freie Bahn zum Fotografieren. Als sich ein groß gewachsener Typ vor mich stellt, murmel ich auf Japanisch so was wie „echt jetzt?!“ – schon springt mir mein Nachbar zu Hilfe und diskutiert mir den Weg wieder frei.
Eine Stunde stehen wir in praller Sonne. Die Schreine sind in Sichtweite, vor dem Finale machen die Träger aber eine Pause. Dann endlich geht es los. Erst ziehen die Kindergruppen unter Applaus ab. Dann kommen die großen Schreine. Mitten auf der Kreuzung fordern sie sich zu zwei oder dritt heraus, heben ihre Schreine in die Luft, trommeln, singen, oysar! Wenn so ein Schrein in Bewegung ist, lässt er sich nur schwer stoppen, mehr als einmal rempeln die Träger ins Publikum rein, ich stehe plötzlich nicht mehr vor, sondern unter den Papierblüten. Meine Fotofreunde habe ich im Gedränge verloren. Eine ältere Japanerin neben mir sucht das Gespräch, zeigt mir den Schrein ihres Stadtviertels, weist mich auf den rein von Frauen getragenen Schrein hin und rupft mir ein paar Papierblüten von einem anderen. Am Ende lädt sie mich ein: „please come back next week“. Sie meint wohl nächstes Jahr.
Es funktioniert!
Das Fest ist zu Ende und auch wieder nicht, die Schreine werden ausgelassen zurück in ihre Stadtteile getragen, die Party geht an vielen Ecken weiter. Wer die Schreingarage erreicht hat, fängt an, die Blumendeko abzuziehen. Zu einem Ring eingerollt werden sie an Interessenten verschenkt. Viele tragen diesen Ring noch Stunden stolz durch die Stadt. Überall am Straßenrand liegen Blütenblätter aus Papier, die ersten fegen schon emsig vor ihrem Haus. Wie das hier auch aussieht! Ich gehe noch ins Laternenmuseum und schaue mir ein paar der Stücke an, die ich im Oktober hätte sehen können. Zu sphärischer Musik in einem dunklen Raum leuchten hier kleine Kunstschätze aus Papier. Mindestens ein Dutzend davon würde ich mir sofort in die Wohnung stellen.
Bleibt noch die Frage nach der Bedeutug von oysar. Laut Internet ist es ein mit dem Schrein und dem Fest verbundenes rituelles Wort. Diese Erklärung fand ich reichlich unbefriedigend, deswegen bin ich nach dem Umzug nochmal in die Touristeninformation marschiert und habe in meinem schönsten Japanisch nachgefragt. Die Damen waren erstmal perplex. Und mussten beratschlagen. Sie kamen schließlich mit der Erklärung, dass es ursprünglich aus einem Ausdruck entstanden ist, der so viel bedeutet wie „es ist schwer“, bezogen auf die Schreine. Würde Sinn machen. Wollen wir mal gelten lassen.
Hana Mikoshi geht übrigens bis in die Edo-Zeit zurück und ursprünglich wurde mit dem Umzug um Regen gebetet, der für den Reisanbau wichtig ist. Und nach dem strahlenden Sonnenschein am Samstag ist für Sonntag tatsächlich Regen angekündigt. Ich bin inzwischen nach Takayama weitergereist für das nächste Festival. Das wegen Regen kurzfristig abgesagt wird. Es funktioniert also!
hartstikke leuk weer !