Bahnhofsvorsteherkatzengöttinnenwallfahrt

Bahnhofsvorsteherkatzengöttinnenwallfahrt

19. August 2018 1 Von Sabine

Es war einmal eine kleine private Bahnlinie, die kurz vor der Pleite stand. An den Provinzbahnhöfen wurde das Personal entlassen. An der Endhaltestelle der Bimmelbahn ernannte man aus Spaß eine streunende Katze zur Bahnhofsvorsteherin. Und das Wunder geschah: die Leute kauften in Scharen Zugtickets, um die schnurrende Stationsvorsteherin zu sehen. Bahnlinie gerettet, Streunerkatze in festem Arbeitsverhältnis auf Lebenszeit. Und wenn sie nicht gestorben wäre, würde sie noch heute Tickets kontrollieren.

Kein Märchen, sondern tatsächlich passiert. Die Wakayama Electric Railway stand 2006 vor dem Aus und konnte nur dank staatlicher Subventionen den Betrieb aufrecht erhalten. Entlang der Kishigawa Linie wurde das Personal an den Bahnhöfen entlassen. Stattdessen wurden lokale Geschäftsleute nebenberuflich Bahnhofsvorsteher. An der Endstation der Linie, in Kishi, war es der Kiosk im Bahnhof, der das übernahm. Der Kioskbesitzer fütterte eine streunende Katzenmutter und ihre beiden halbwüchsigen Töchter durch. Eine dieser Töchter mit dem Namen Tama zeigte sich besonders zutraulich und wurde eine Art inoffizielles Maskottchen des Bahnhofs. 

Der Chef der Bahnlinie hatte daraufhin die Idee, die sein Unternehmen retten sollte: ernennen wir doch die Katze medienwirksam zur Stationsvorsteherin. Komplett mit Hut und Dienstmarke. Der Plan ging auf. Nachdem Tama am 5. Januar 2007 zur Stationsvorsteherin ernannt wurde, stiegen die Passagierzahlen. Die Linie war vorerst gerettet.

Eine Katze hat sieben Karrieren

Wie sorgt man nun dafür, dass aus der Katze keine Eintagsfliege wird und der Boom anhält? Die PR-Abteilung der Wakayama Electric Railway verband geschickt drei Dinge miteinander: 1. Die Katze im Bahnhof erinnert an das Konzept der winkenden Katze (maneki neko), die als Glücksbringer gilt. 2. Japaner lieben es niedlich. Den Ausruf kawaii! (süß, niedlich, entzückend) hört man hier oft. Und in einem Land, das Hello Kitty hervorgebracht hat, dürfte es niemanden verwundern, dass man mit einer niedlichen Katze (deren Muster auf den Vorderbeinen auch noch wie ein Herzchen aussieht!), Publikum erreicht. 3. In Japan gilt die Treue zur Firma noch was und ist Voraussetzung für die Karriere. Wakayma Electric Railway hat Tama daher in den folgenden Jahren mehrfach befördert und ihr im Laufe ihrer Karriere sieben verschiedene Titel verliehen. Äußerst pressewirksam, versteht sich. 2008 wurde sie Super Station Master und damit verantwortlich für alle Bahnhöfe der Linie. Die Beförderung hatte Vorzüge, Tama bekam nun ein eigenes Büro (einen umgebauten Ticketschalter). Sie wurde in den folgenden Jahren offiziell in den Vorstand aufgenommen und war am Ende sogar Präsidentin der Bahnlinie. Wakayama Electric Railway war sich übrigens nicht zu schade, hervorzuheben, dass Tama die erste Frau in einer Führungsposition im Unternehmen ist. Ich sehe hier neue Ansätze für die Diskussion um die Frauenquote ….

Im Jahr 2010 dann der nächste PR-Coup: der Bahnhof in Kishi wurde abgerissen und durch ein neues Gebäude ersetzt – komplett mit Katzenaugen und Ohren (links). Schon im Jahr zuvor hatte die Linie den Tama-Zug auf die Schienen gesetzt, ebenfalls mit Öhrchen und aufgemaltem Schnurrbart (leider fuhr er nicht, als ich da war, ich musste mit dem Erdbeerzug vorlieb nehmen – sehr kawaii).

Mit Tamas steigender Popularität war klar: sie braucht Personal. 2012 bekam sie eine kompetente Stellvertreterin: Nitama. Ni ist Japanisch für zwei, und die Neue ist zufällig genauso dreifarbig wir ihre Chefin. Nitama ist zwei Jahre lang in der Zentrale in Okayama ausgebildet worden und hat erfolgreich die Akademie für Katzen-Stationsvorsteher abgeschlossen, wie die Firma in einem offiziellen Statement erklärte. Voraussetzung für den Erhalt des Diploms ist, dass die Katzen problemlos mit ihren menschlichen Kollegen zusammenarbeiten und bereitwillig einen Hut tragen (kawaii!).

Ist die Katze im Bahnhof, tanzen die Kunden um den Ticketschalter

Am 22. Juni 2015 ist Tama gestorben. Wakayma Electric Railway hat eine Beerdigung organisiert, zu der 3.000 Trauergäste gekommen sind. Tama wurde in einem speziellen Katzenschrein in der Nähe von Kishi beerdigt und zur Göttin ernannt. Auf dem Bahnsteig in Kishi ist ihr zu Ehren ein kleiner Schrein errichtet, der u. a. mit Winkekatzen mit Dienstmütze (rechts) dekoriert ist. Außerdem wurde sie posthum ein letztes Mal befördert und ist nun Ehrenwerte Ewige Stationsvorsteherin. Für Nitama gilt es, in diese große Pfotenabdrücke zu treten. Sie ist nach Tamas Tod zur neuen Stationsvorsteherin ernannt worden. Auf dem großen Foto ganz oben sieht man sie bei der Arbeit.

Um Nitama zu treffen, muss man zunächst nach Wakayama fahren. Von dort nimmt man das Bimmelbahn der Kishigawa Linie. Nach Kishi dauert es etwa eine halbe Stunde. Beim Aussteigen aus dem Zug steht man direkt vor dem Tama-Schrein auf dem Bahnsteig. Vorbei am Tama-Fahrplan (kawaii!) geht es in die winzige Bahnhofshalle. Auftritt: Nitama (kawaii! kawaii!). In einem in die Bahnhofshalle hineinragenden Glaskasten liegt sie und hat ein Auge auf den Betrieb im Bahnhof. Oder schläft. Die Leute um sie herum interessieren sie herzlich wenig. Aber das war wohl auch wichtigste Einstellungsvoraussetzung. Nitama hat übrigens feste Arbeitszeiten, einer der Vorteile, wenn man ein Star ist. 

Nitamas Büro ist von zwei Seiten aus einsehbar. Von der Bahnhofshalle und vom Tama-Shop (rechts) aus. Ohne Zahlen zu kennen behaupte ich einfach mal, dass Wakayama Electric Railway mehr Geld mit Tama-Devotionalien verdient als mit Fahrkarten. Ich habe jedenfalls das Fünffache eines Tagesticketpreises im Shop gelassen. Dafür bin ich nun stolze Besitzerin des Tama-Kaffeebechers, des Tama-Stempelsets, des Tama-Handtuchs, des Tama-Washi-Tapes, der Tama-Prospekthülle, eines Tama-Göttinnen-viel-Glück-Anhängers und von Tama-Aufklebern sowie dem mit-Tama-durch-die-vier-Jahreszeiten-Postkartensets. Zum Glück akzeptiert die Katze Kreditkarten. Und ich habe mich hier wirklich auf das Allernötigste beschränkt! Es hätte auch noch Tama-T-Shirts, Tama-Klebezettel, Tama-Notizblöcke, Tama-Schulhefte, Tama-Kekse und -Mochi und -Knabberzeug, Tama-Kosmetikbeutel, Tama-Bleistife und -Kulis, Tama-Anstecker, Tama als Winkekatze und lebensgroße Tama-Plüschfiguren gegeben. Und weil Tama eine Göttin ist, auch alles, was man so in Tempeln bekommt. Talismane für Glück, Liebe, Erfolg in der Schule oder eine problemlose Geburt. Tama-Horoskope. Und die kleinen Holztäfelchen (ema), die man an Schreinen und Tempel kauft, mit seinen Wünschen beschriftet, und dann dort aufhängt.

Bahnhofstiger

Nach dem Besuch im mit Abstand besten Souveniershop Japans hat man sich eine Pause verdient – natürlich im Tama-Café. Das serviert nicht nur Getränke mit Katzenohren (siehe unten, lecker kawaii!), sondern auch Spezialitäten wie eine Hot Cat (Fischwürstchen im Brötchen). Wer möchte, kann sich hier gegen Geld auch in einer Uniform der Bahnlinie fotografieren lassen. Die Hauptattraktion ist aber der Schrank mit Tamas original Bahnhofsvorsteherinnenhütchen und ihren diversen Umhängen.

Ich war mit zwei Klassenkameraden unterwegs, und wie wir so unsere Tama-Drinks genießen, spricht uns eine ältere Japanerin mit wirren Haaren und schlechten Zähnen in radebrechendem Englisch an. Sie erklärt uns das Tama-ist-eine-Göttin-Prinzip nochmal und schiebt uns dann eines der ema übern Tisch. Die gegenüber im Laden immerhin 600 Yen kosten. Wir sind etwas verwirrt, warten darauf, dass sie im Gegenzug was von uns will und lassen das ema unberührt auf dem Tisch liegen. Aber die Dame steht auf, verabschiedet sich und geht, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Und dabei sah sie wirklich nicht so aus, als könnte sie es sich erlauben, Touristen zu beschenken. Für den Fall, dass sie unsere gute Fee war (oder Tama in Reinkarnation?) beschriften wir das ema und hängen es vor der Abfahrt am Tama-Schrein auf. Sicher ist sicher.

Die Katze lässt die Spin-offs nicht

Nach Tama Nummer eins und zwei ist natürlich nicht Schluss, Wakayma Electric Railway hat schon Tama Nummer drei und vier unter Vertrag. Yontama (yon ist Japanisch für vier) ist offizielle Assistentin von Nitama und hat Dienst an einer anderen Station der Linie, nämlich in Idakiso. Wir haben dort den Schrein besucht (das ist eine andere Geschichte), aber Yontama hatte einen freien Tag. Tama Nummer drei arbeitet in Okayma, wo Wakayama Electric Railway die Straßenbahn betreibt. Da Okayama sich als „the Land of Sunshine“ verkauft, heißt Tama Nummer drei nicht Santama (san wäre drei auf Japanisch), sonder SUN Tama (Großbuchstaben im Original). Offiziell ist sie Angestellte der PR-Abteilung für die Straßenbahn. Und vielleicht ist sie hinter den Kulissen besser aufgehoben, auf diesen Bildern sieht sie nicht sehr glücklich aus im Rampenlicht.

Selbstredend versuchen andere Bahnlinien inzwischen, das Konzept zu kopieren. Es gibt Bahnhofsvorsteher in Gestalt eines Pinguins (der arbeitet aber nur 30 Tage im Jahr), einer Riesenschildkröte (ausgerechnet an einer Shinkansen-Station!), eines Hasen, diverser Hunde und Ziegen, eines Affenpaares und zweier Hummer (in diesem Fall liegt die Vorstehermütze auf dem Aquarium – etwas billig, finde ich). Ich bin schon dabei, Anreise-Optionen zu recherchieren.

Und wer nun angesichts der super-mega-kawaii! Tama-Devotionalien nicht mehr an sich halten kann: ich würde die Sommer- und die Herbst-Postkarte aus meinem Set ganz klassisch mit der japanischen Post verschicken. Einfach bis Ende August eine Mail an sabine[at]kimono-chroniken.de schicken, und ich lose zwei glückliche Empfänger aus, auf die dann hoffentlich ein bisschen göttlicher Tama-Glanz abfärbt.