Heilig, aber oben ohne – die Hirsche von Nara
Zu behaupten, die Hirsche und Rehe in Nara wären kontaktscheu, ist ungefähr so, als würde man verkünden, dass die Japaner nicht mit Stäbchen essen mögen. Das Wild in Japans erster Hauptstadt unweit von Kyoto kommt gerne auf Tuchfühlung. Was zu einem nicht unerheblichen Maße an dem Futter liegen dürfte, das die Besucher des Parks mit den vielen imposanten Tempeln an jeder Ecke kaufen können. Und weil es keine Zäune gibt, die die Tiere im Park halten, trifft man die ersten schon auf dem Bürgersteig zwischen Bahnhof und Grünanlage. So weit, so friedlich die Koexistenz mit dem Menschen. Doch ab und an und vor allem in der Brunftzeit können die Hirsche doch recht ungemütlich werden und Menschen verletzen. Deswegen werden ihnen alljährlich die Geweihe gekürzt, bevor es ans Werben um die Damen geht. Und das schon seit 1671.
Da die Hirsche Götterboten sind, ist die Sache mit dem Kürzen der Geweihe eine große Nummer. Zuständig dafür ist der Kasuga Taisha Schrein, dessen Gottheit einst auf einem Hirsch nach Nara geritten kam, weswegen die Tiere – es sollen rund 1.200 sein – bis heute ein friedliches Leben im Nara Park führen dürfen. Der Schrein steht inzwischen auf der UNESCO-Weltkulturerbeliste, die halbzahmen Sikahirsche wurden von der japanischen Regierung als „Naturmonument“ eingestuft.
Erst das Gebet, dann die Jagd
Anfang Oktober ist es so weit, dann werden die Hirsche mit den größten Geweihen in eine zum Schrein gehörende Arena getrieben. Die Japaner stehen Schlange, um ein Ticket für das Spektakel zu erwerben. Und wo Japaner Schlange stehen, stelle ich mich gerne mit an. Bevor es den Hirschen ans Geweih geht, wird gebetet. Heilige Hirsche erfordern heilige Männer, und so ist an einem Ende der Arena eine Bühne integriert, auf der Priester zunächst entsprechende religiöse Riten durchführen. Zwei Mal wird dabei über Lautsprecher durchgesagt, man möge nun den Kopf senken zum Gebet – und alle senken den Kopf zum Gebet. Mit Ausnahme der Touristen, die das Ganze unbekümmert filmen.
Dann werden drei Hirsche in die Arena getrieben, die gleich mal aufeinander losgehen. Jedenfalls so lange, bis etwa 20 Männer ausschwärmen und versuchen, den Tieren Seile über das Geweih zu werfen, um sie daran zu Boden zu ziehen. Das klingt einfacher, als es ist, und braucht seine Zeit. Denn so ein Hirsch ist schnell – vor allem, wenn er befürchten muss, einen wichtigen Teil seiner männlichen Identität zu verlieren. Man nimm einem Mann auf dem Weg zu einem Date ja auch nicht einfach den Autoschlüssel weg. Hat es dann aber doch einen Hirschen erwischt, tragen die Männer ihn auf eine spezielle Decke mit Kissen. Letzteres dient vor allem dazu, das Geweih in eine Position zu bringen, aus der heraus es schnell abgesägt werden kann. Der Priester, der den Kopfschmuck stutzt, träufelt dem Hirsch zunächst Wasser ins Maul, das soll ihn beruhigen. Dann setzt er die Säge an. Ist die erste Seite gekürzt, wird das abgeschnittene Stück dem Publikum präsentiert. Wenn auch die zweite Seite abgesägt ist, werden beide Stücke hoch gehoben und in alle Richtungen gezeigt. Der Hirsch darf dann die Arena verlassen, während es seinen Kollegen an den Kragen bzw. Kopf geht.
Mehr Show als Notwendigkeit
Das Spektakel hat was, aber seien wir ehrlich: es müsste nicht sein. Da das Wild in Nara so zutraulich ist, könnte man die Hirsche auch mit Futter anlocken und dann packen, die Jagd durch die Arena wäre dann überflüssig. Vor allem, weil die Tiere aus einem Gehege neben der Arena extra in diese getrieben werden, da sie schon vorher aus dem Park geholt werden. Und serviceorientiert wie die Japaner sind, fangen sie die Hirsche mal auf der einen, mal auf der anderen Seite der Arena, damit jeder was sehen kann. Aber ja, es handelt sich um eine traditionelle Zeremonie aus dem Jahr 1671. Die gibt man nicht mal eben auf. Auch weil sie religiöse Verbindungen hat.
Die gute Nachricht: dort wo ich stand, konnte ich sowohl in die Arena als auch das Gehege schauen. Die Hirsche haben die Arena zwar fluchtartig verlassen, sich danach aber schnell wieder beruhigt. Und ihre Artgenossen sind schon geweihlos im Park unterwegs. Bis zum nächsten Herbst, dann geht alles wieder von vorne los.