Staatlich unterstützer Katastrophentourismus
Die Schlammlawine hat das Erdgeschoss des Wohnblocks zur Hälfte gefüllt. Im öffentlichen Bad nebenan schaut sogar nur noch das oberste Drittel der Türen aus dem Dreck, den der Vulkanausbruch ins Tal gespült hat. Und aus dem Kindergarten ist eine Baumschule geworden. In seinem Inneren wächst so viel Grün, dass mancher Botanischer Garten mit seinem Gewächshaus da nicht mithalten kann. 19 Jahre ist der letzte Ausbruch des Vulkans Usu auf Japans nördlichster Insel Hokkaido her. Doch anstatt die Spuren der Verwüstung zu beseitigen, hat man mit öffentlichen Geldern Wanderwege durch die zerstörten Stadtviertel gebaut, mehrsprachige Hinweisschilder aufgestellt und farbenfrohe Pläne mit der Wanderroute gedruckt.
Der Usu ist ein freundlicher Vulkan, der seine Ausbrüche ankündigt. Bevor er anfängt, Lava und Asche zu spucken und mit Felsbrocken um sich zu werfen, lässt er erstmal ein paar Tage die Erde beben. Dann wissen die Behörden, dass sie die Ortschaften rund um den Berg besser evakuieren. Im Jahr 2000 konnten alle Bewohner in Sicherheit gebracht werden, bevor der eigentliche Ausbruch begann. Davor ist der Usu 1977, 1943 und 1910 ausgebrochen. Dabei gestaltet er gerne mal die Landschaft um. Nicht nur seine eigenen Bergflanken bekommen dann Zuwachs. Nach dem Ausbruch 1943 war die Gegend gleich um einen kompletten neuen Berg reicher. Mit so einem Vulkan muss man sich arrangieren, und das tun die Bewohner hier.
Gesteuerter Vulkanausbruch
Mein Ausgangspunkt für diesen Besuch ist Toyako Onsen. Diese kleine Stadt liegt zwischen dem Vulkan und einem kreisrunden Vulkansee, der vor ungefähr 100.000 Jahren entstanden ist. Hier brodelt es also schon länger. Toyako Onsen ist für seine Bäder bekannt, die der Vulkan mit heißem Wasser versorgt. Das sprudelt übrigens erst so richtig seit dem Ausbruch 1910, der so gesehen für den Tourismus nicht schlecht war. Auch ich sitze abends im Vulkanwasser. Es ist bräunlich und riecht ein bisschen erdig.
Es gibt in Toyako Onsen zwei Routen durch zerstörtes Gelände, die sich in Kombination laufen lassen. Zunächst geht es über asphaltierte Wege etwa 20 Minuten vorbei an zerstörten Gebäuden. Der Weg beginnt direkt hinter dem Busbahnhof, fünf Minuten Fußweg von meinem Hotel entfernt. Man lebt hier wirklich sehr eng mit dem Vulkan zusammen. Aus einem Fenster des zerstörten Bades hängen Plastiksitze. Im Innern sehe ich einen zertrümmerten Getränkeautomaten und umgestürzte Schließfächer. Direkt daneben ragen die Reste einer Brücke gen Himmel. Im Wohnhaus wächst an allen möglichen Stellen Grünzeug. Die Natur erobert sich diesen Ort zurück. Mal abgesehen vom Schlamm im Erdgeschoss und den zerstörten Fenstern sieht das Gebäude erstaunlich gut aus.
Wer möchte, kann an dieser Stelle umdrehen. Optional geht es nun über Schotterwege den Berg hinauf. Zunächst aber überquere ich eine alte Sperre, die hier an verschiedenen Vulkanen zum Einsatz kommt. Da, wo Lava und Schlamm nach Expertenberechnungen am ehesten ins Tal fließen könnten, baut man eine Art Flussbett, über das man den Vulkanausbruch ein bisschen steuern möchte. Nicht nur werden so die Lawinen an der Wohnbebauung vorbei gelenkt. Gitter in der Konstruktion sollen zudem die größten Felsbrocken zurückhalten, damit diese nicht ins Tal rollen. Direkt neben der Sperre sind Reste der alten Bundesstraße zu sehen. Seit dem letzten Ausbruch wird der Verkehr über eine neue Straße weiter oben geleitet.
Flickenteppich aus Kratern
Mein nächster Stopp ist einer der alten Krater, nun ein See. Der Usu bricht immer wieder an anderer Stelle aus, Luftbilder im Vulkanmuseum zeigen einen Flickenteppich aus Kratern. Dieser ist schon lange erloschen, nun paddelt träge eine Ente darin. Vorbei an einer alten Fabrik mit hohem Schornstein und zwei rostigen Bussen geht es bergab. Unten steht die alte Feuerwache, daneben endet eine zerstörte Straße in einem Wasserloch, ein Auto steht darin. In der Feuerwache läuft ein Film über den Vulkan. Gegenüber geht die zweite Route los. Hier hat man Holzstege durch das seit dem Ausbruch sehr unebene Gelände verlegt.
Mehr zerstörte Straßen, ein umgeknickter Strommast. In der Ferne schaut so eben noch ein Teil von einem Bagger aus dem Boden, der Rest ist begraben. Die Ruine einer Keksfabrik neigt sich bedenklich zur Seite (großes Foto ganz oben). Etwas weiter ein zerstörtes Wohnhaus, davor noch ein rostiges Auto, in dem Moos wächst und offensichtlich Vögel gebrütet haben. Die ideale Kulisse für einen Katastrophenfilm. Die Route endet am Kindergarten. Der Schulbus steht noch vor dem Gebäude, das komplett von Bäumen und Ranken übernommen wurde. Sollte die Menschheit ausgelöscht werden, dürfte es schnell überall so aussehen. Nur mit weniger Hinweisschildern.
Am nächsten Tag fahre ich mit der Seilbahn den Vulkan hinauf. Entlang des Kraters führt ein Wanderweg, Rauch steigt an verschiedenen Stellen aus dem Boden. Gegenüber erhebt sich der Showa Shinzan, der beim Ausbruch 1943 entstand. Auch hier dampft es. Anders als die älteren Berge der Region ist dieser Berg nur spärlich bewachsen. Das dauert bei Vulkanen offensichtlich länger als bei zerstörten Gebäuden.
Ich kann nicht umhin, die Japaner zu bewundern dafür, wie sie mit den Vulkanen in ihrem Land leben. Der Usu bricht alle 20 bis 30 Jahre aus, es ist also nur noch eine Frage von ein paar Jahren, bis er wieder rumpelt und spuckt. All die Wanderwege und Hotels, die Seilbahn und die Ausflugsdampfer auf dem See könnten dann zerstört werden. Trotzdem hält das keinen davon ab, hier etwas aufzubauen. Was mich nach diesen drei Tagen im Schatten des Vulkans am meisten beunruhigt: neben der Seilbahn haben sie einen Bärenpark gebaut. 70 japanische Braunbären wohnen da. Zwei Meter werden die groß. Hat jemand einen Evakuierungsplan für 70 Braunbären beim nächsten Vulkanausbruch? Es wäre wirklich sehr unschön, wenn die unbeaufsichtigt durch die Gegend ziehen …
Praktische Informationen
Nach Toyako Onsen kommt man von Hokkaidos Hauptstadt Sapporo wunderbar mit dem Fernbus. Hotels gibt es reichlich, fast alle sind sie breit aber nicht tief, damit die Zimmer alle Seeblick haben. Schließlich gibt es von Mai bis Oktober jeden Abend ein 20-minütiges Feuerwerk auf dem Wasser. Der Weg durch die zerstörten Gebäude beginnt schräg hinterm Busbahnhof, diese Route nennt sich Konpira. Die zweite Route ab der alten Feuerwache heißt Nishiyama. Wer nicht den Schotterweg dazwischen laufen will, kann ab Busbahnhof den Linienbus bis zur Feuerwache nehmen. Gegenüber vom Eingang zur Konpira Route steht das moderne Vulkanmuseum, das einen Besuch wert ist. Schon alleine, weil sie hier die kleinen Beben simulieren, die vor einem Ausbruch zu spüren sind. Und wem der Name Toyako irgendwie bekannt vorkommt: der G8-Gipfel 2008 fand hier statt.