Der singende Sand von Kotohikihama
Spoiler Alert! Er singt nicht wirklich. Aber der Sand am Strand von Kotohikihama hat einen interessanten Sound, und der wiederum einen interessanten Grund. Und „singender Sand“ macht sich in den Broschüren des Tourismusbüros natürlich auch sehr viel besser als „komisch quietschender Sand“. Also: Schuhe aus und ab an den Strand!
Kotohikihama gehört zum Verwaltungsbezirk der Präfektur Kyoto. Weswegen in meiner Heimatstadt, die nun wirklich so gar nicht am Meer liegt, Broschüren mit dem Titel „Kyoto by the Sea“ ausliegen. Und der singende Sand wird darin als eine top Attraktion angepriesen. Tatsächlich muss man, um von Kyoto nach Kotohikihama zu kommen, die halbe Insel Honshū von Süden nach Norden durchqueren, das sind etwa zweieinhalb Stunden Fahrt. Kotohikihama liegt nämlich ungefähr (was sind schon ein paar hundert Seemeilen unter Freunden?) gegenüber von Wladiwostok. Der Name Kotohikihama setzt sich zusammen aus koto, das ist eine Art japanische Zither, hiki, das heißt ziehen oder auch zupfen, und hama, Japanisch für Strand (auch wenn sich dafür inzwischen ebenfalls das aus dem Englischen abgeleitete bichi eingebürgert hat). Zusammengefasst also etwa: der Strand, der so klingt wie ein Zitherspiel. Was sich in der Touristenbroschüre auch nicht gerade griffig verkaufen lässt. Also doch mal singen.
Schlurfen ausdrücklich erwünscht
Ich steige morgens um kurz nach acht aus der Bimmelbahn. Die Touristeninformation im Bahnhof ist nicht nur wegen der frühen Uhrzeit geschlossen, sondern grundsätzlich. Sie wurde in ein Einkaufszentrum verlegt. Finde Dich mal selbst zurecht, Reisende! Und viel Spaß mit unserem ausschließlich in Japanisch gehaltenen Busfahrplan! Das Internet behauptet, dass der nächste Bus an den Strand fährt, aber ich frage den Fahrer lieber nochmal in meinem besten Japanisch. Ich bin hier richtig, und 200 Yen später stehe ich an einer Busshaltestelle, von wo aus ich erstmal keinen Strand sehe. Aber angeblich, sagt die Karten-App, ist er ein Stück die Straße runter. Und tatsächlich, da ist er!
Kurz darauf grabe ich die nackten Füße in den Sand. Aber …. die Sache mit dem Singen habe ich mir irgendwie anders vorgestellt. Denn dieser Sand redet so gar nicht mit mir. Ich frage mich schon, warum ich für sowas in die Provinz gereist bin, als ich doch was höre. Der Trick ist: man muss schlurfen! Und zwar nicht zu knapp. Dann macht der Sand Geräusche. Es klingt ein bisschen so, als würde man über einen Teppich schlurfen. Nur viel, viel lauter. Warum Kotohikihama so anders klingt als andere Strände, das erfahre ich etwas später im Singing Sand Museum, direkt gegenüber der Bushaltestelle.
Der Sand von Kotohikihama besteht zu 75 Prozent aus Quarz. Durch das Laufen oder eher Schlurfen kommt es zu Vibrationen im Sand, die für das „Singen“ verantwortlich sind. Außerdem finden sich im Sand mikroskopisch kleine Muscheln und Foraminiferen. Letzteres musste ich auch erstmal recherchieren, und (wissenschaftlich sicher nicht ganz korrekt) vereinfacht handelt es sich dabei um zumeist Einzeller, die ein Gehäuse haben. Und die meisten von uns wüssten diese Dinger wahrscheinlich nicht von einer Muschel zu unterscheiden. Der besondere Sound von Kotohikihama wurde übrigens schon im 16. Jahrhundert von Reisenden und Dichtern erstmals dokumentiert. Eine Anerkennung modernerer Zeiten erhielt der Strand 2007, als er offiziell als Naturmonument registriert wurde.
Bedrohter Soundeffekt
Nun kommt der entscheidende Punkt: Der singenden Sand singt nur, wenn er sehr, sehr sauber ist. Schon Dinge wie Zigarettenasche können den Effekt zerstören. Und erst recht all das, was heutzutage an Stränden angespült wird. Im Museum finden sich zahlreiche Beispiele für Müll, der am Kotohikihama eingesammelt wurde. Da gibt es gebrauchte Spritzen in allen Größen und eine riesige Sammlung an Feuerzeugen mit wahlweise japanischer, koreanischer oder chinesischer Beschriftung – Müll kennt keine Grenzen. Vor dem Museum entdecke ich ein altes Plakat für ein Konzert aus dem Vorjahr, für das keine Eintrittskarte verkauft wurden. Stattdessen galt es, Müll einzusammeln und mitzubringen. Der war das Ticket zum Musikevent. Kotohikihama ist einer von etwa 30 Stränden mit singendem Sand in Japan. Und alle sind sie stark bedroht durch die Meeresverschmutzung.
Aber das Museum klärt nicht nur über das Müllproblem auf, hier darf man auch Spaß haben. Vor allem, wenn man noch ein kleiner Mensch ist. Zwei kleine Mädchen beugen sich mit konzentrierter Miene und großen Lupen über einen Tisch, auf dem Sand liegt, aus dem man die winzig kleinen Muscheln suchen darf. Als ich mich dazu setze, erklären sie mir völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass ich so offensichtlich keine Japanerin bin, sehr ernsthaft auf Japanisch, was ich zu tun habe. Dann bekomme ich eine winzige rosa Muschel geschenkt, als kleine Ermutigung, mich auch an die Suche zu machen. Nebenan sind verschieden große Glasschalen mit Sand gefüllt. Mit einem Holzstock kann man den Sand zum Singen bringen. Und das tut er je nach Größe des Gefäß in einer anderen Tonlage. Wasserorgeln sind ja leider mit dem Römischen Reich untergegangen. Aber vielleicht könnte eine Sandorgel noch zum neuen Kult-Instrument werden?
Praktische Informationen
Theoretisch kann man von Kyoto aus einen Tagesausflug nach Kotohikihama machen, wenn man kein Problem damit hat, mehr Zeit im Zug zu sitzen als am Strand. Praktisch lässt sich der Ausflug gut mit einem Besuch zum Beispiel von Amanohashidate verbinden, einer Sandbank, die zu den drei schönsten Landschaften Japans gehört. Dort gibt es auch hinreichend Unterkünften in allen Preisklassen, um ein (langes) Wochenende daraus zu machen. Von Kyoto aus fahren sowohl ein Expresszug als auch ein Fernbus nach Amanohashidate, wo man in die Bimmelbahn nach Amino umsteigt. Direkt vor dem Bahnhof Amino fährt der Linienbus nach Kotohikihama ab. Am Strand gibt es Parkplätze, Toiletten und Getränkeautomaten, das war es dann aber auch mit Infrastruktur. Auch das Museum verfügt lediglich über Getränkeautomaten. Dafür gibt es dort freundliches Personal, das schnell mal in den Busfahrplan guckt, damit man nicht den teilweise nur stündlich fahrenden Bus zum Bahnhof verpasst.
Wieder mal ganz was Anderes, sehr schön !